Stirbt die Menschheit aus?

Jun 17, 2019

Die Klimakrise wird immer apokalyptischer beschrieben. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass unsere Zivilisation demnächst endet – aber möglich. Und diese Möglichkeit findet noch zu wenig Beachtung.

von Christian Mihatsch (klimareporter.de)

Die Wahrnehmung des Klimaproblems wandelt sich derzeit rapide. Der Begriff „Klimawandel“ wird zunehmend durch „Klimakrise“ ersetzt und statt „Erwärmung“ wird sich wohl „Klimaüberhitzung“ oder ein ähnlicher Begriff durchsetzen. Doch ist es angemessen, vom Ende unserer Zivilisation oder gar dem Aussterben der Menschheit zu sprechen?

Einige der derzeit wichtigsten Klimabewegungen tun genau das. „Extinction Rebellion“ trägt das Aussterben schon im Namen und die erste Forderung der Bewegung ist: Sagt die Wahrheit und erklärt den Notstand.

Greta Thunberg von Fridays for Future sagt ebenfalls klar, welche Optionen die Menschheit hat: „Entweder entscheiden wir uns dafür, unsere Zivilisation zu bewahren, oder wir tun es nicht.“ Und an die Führer der Welt gerichtet sagt Thunberg: „Ich will, dass ihr Panik kriegt.“

Aber gibt es wirklich Grund zur Panik? Schließlich sagt der Weltklimarat IPCC, dass die Überhitzung theoretisch noch bei 1,5 Grad gestoppt werden kann. Die IPCC-Berichte gelten als „Goldstandard“ der Klimawissenschaften, weil sie die Erkenntnisse aus Tausenden Studien zusammenfassen.

Doch die Berichte werden auch kritisiert, etwa wegen ihrer Sprache. Hans Joachim Schellnhuber, Ex-Chef des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und IPCC-Autor, sagt über IPCC-Autoren: Unter ihnen habe sich ein Trend entwickelt, „auf der Seite mit dem geringsten Drama zu irren“. Sie stellen die Situation also besser dar, als sie ist, um nicht alarmistisch zu klingen.

Die „Wahrscheinlichkeitsobsession“ des IPCC

Zudem geht der IPCC davon aus, dass sich die Erwärmung linear fortsetzt. Viele Computermodelle des Klimas zeigen aber, dass sich die Erwärmung beschleunigt. Der Unterschied: Statt 2040 wird die 1,5-Grad-Schwelle schon 2030 erreicht (siehe Grafik).

Zudem berücksichtigt der IPCC Rückkopplungseffekte wie das Tauen des Permafrosts zu wenig, die dafür sorgen können, dass sich die Klimaüberhitzung selbst verstärkt.

Das größte Manko ist laut Schellnhuber aber die „Wahrscheinlichkeitsobsession“ des IPCC, denn dadurch werde den gefährlichsten Entwicklungen zu wenig Beachtung geschenkt: „Wahrscheinlichkeiten zu berechnen hat wenig Sinn in den kritischsten Bereichen wie dem Tauen des Permafrosts oder dem möglichen Kollaps ganzer Staaten.“

Hinzu kommt, dass sich der Schaden etwa des Zusammenbruchs unserer Zivilisation nicht beziffern lässt. In einer neuen Studie des australischen Thinktanks Breakthrough heißt es: „Ein Risiko wird üblicherweise berechnet, indem man die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses mit dem zu erwartenden Schaden multipliziert. Aber wenn sich der Schaden nicht mehr quantifizieren lässt, kommt diese Methode an ihr Ende.“

Aber selbst im noch quantifizierbaren Bereich unterschätzt man das Risiko, wenn man sich vor allem auf die relativ wahrscheinliche Erwärmung konzentriert und die Worst-Case-Szenarien ausblendet. Denn bei diesen nehmen die Schäden exponentiell zu (siehe Grafik unten).
Unwahrscheinlich, aber katastrophal

Schellnhuber fordert daher, „Wahrscheinlichkeiten“ weniger und „Möglichkeiten“ mehr Beachtung zu schenken. „Dies entspricht der Szenarioplanung in der Wirtschaft, wo auch die Folgen möglicher Entwicklungen untersucht werden, die zwar unwahrscheinlich erscheinen, aber weitreichende Konsequenzen haben.“

Genau das haben die Autoren der Breakthrough-Studie, David Spratt und Ian Dunlop, getan und ein Szenario entwickelt, bei dem sich das Klima bis zum Jahr 2050 um drei Grad aufheizt. Das ist nicht extrem. Für die 30 Jahre bis zur Mitte des Jahrhunderts gibt es eine Wahrscheinlichkeit von fünf Prozent, dass sich das Klima um 3,5 bis vier Grad erwärmt.

Um zu zeigen, wie es dazu kommen kann, erzählen Spratt und Dunlop eine „Geschichte“:
Im kommenden Jahrzehnt wird der Klimakrise noch immer zu wenig Beachtung geschenkt und die Emissionen steigen noch bis 2030 an, um erst danach zu sinken. Dann ist es bereits zu spät und das Klima erwärmt sich bis 2050 um drei Grad.

Rückblickend stellen Wissenschaftler dann fest, dass mehrere Kipppunkte erreicht wurden, etwa das Tauen des Permafrosts und Dürren im Amazonas-Regenwald. Ein Drittel der Erde ist nun an mindestens 20 Tagen pro Jahr zu heiß, als dass Menschen im Freien überleben könnten. Die Nahrungsmittelproduktion reicht nicht mehr, um alle Menschen zu ernähren, und es gibt mehr als eine Milliarde Klimaflüchtlinge.

Extinction Rebellion und Greta Thunberg nehmen mit ihrer apokalyptischen Sprache auf derartige Szenarien Bezug. Noch ist es wahrscheinlicher, dass unsere Zivilisation nicht endet und die Menschheit nicht ausstirbt. Trotzdem ist es möglich, wenn der Schutz des Klimas weiter nur halbherzig betrieben wird.

Genau diese „Möglichkeiten“ müssen mehr Beachtung finden, sagt Schellnhuber: „Das gilt insbesondere, wenn es um das Überleben unserer Zivilisation geht.“

Grafiken (siehe Bildergalerie):

Risiko-Grafik: Kurven für Wahrscheinlichkeit und Schaden und die resultierende Kurve für das Risiko.
Dickes Ende: Wie sensibel reagiert das Klima auf die Erwärmung der Atmosphäre (climate sensitivity) und welche Folgen hat das? Die Wahrscheinlichkeit (likelihood) multipliziert mit dem Schaden (impact) ergibt das Risiko (risk). Dabei zeigt der hellblaue Balken, dass sehr unwahrscheinliche (very unlikely) Entwicklungen das größte Risiko darstellen. (Grafik: aus der Studie)

Klimagrafik zur Erderwärmung
Verschiedene Klimamodelle zeigen, dass sich die Erwärmung von nun an beschleunigen wird. (Grafik: NASA/​IPCC/​Nature)

Dieser Text erschien zuerst auf klimareporter.de am 9.6.2019

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